Zur Digitalisierung

Im Bestreben historische Aufnahmen verlustfrei zu konservieren, wirft die Digitalisierung eine interessante neue Perspektive auf den Sammlungsgedanken. Der Gegenstand selber, die Schellackplatte, ist wie alle analogen Speichermedien einer Materialdegeneration ausgeliefert, die sowohl durch Nutzung (Abspielen und Überspielen) als auch langfristige Lagerung entsteht. Die Qualität der Tonaufzeichnung verschlechtert sich hierbei nicht eruptiv, sondern graduell. Digitale Speichermedien sind ebenfalls störanfällig und gegenüber einer Schellackplatte sind die Lagerzeiten sogar deutlich kürzer. Der Unterschied beider Verfahren besteht jedoch darin, dass bei rechtzeitigem Datentransfer (von einem digitalen Datenträger auf einen anderen), die Überspielung völlig verlustfrei stattfindet. Daten verschlechtern sich weder graduell noch generativ, Fehler in der Übertragung führen hingegen nicht selten zum Datenverlust.

Die Digitalisierung der Schellackplattensammlung des musikwissenschaftlichen Seminars erfolgt etwa 100 Jahre nach den ursprünglichen analogen Tonaufnahmen. Die digitalen Files bilden also nicht den originalgetreuen, sondern nur den gegenwärtigen Zustand der Platten ab. Auch die digitale Abtastung ist nur eine Approximation der analogen Rille, kontinuierlichen Nadelbewegung und am Tonabnehmer induzierten elektrischen Spannung. Als Auflösung wurden 96 kHz und 24 Bit im unkomprimierten PCM-Format WAVE* gewählt; für die Streamingwiedergabe auf der Website stehen die Musikstücke als MP3-Files (160 kBit/s, Mono) zur Verfügung. Für den Prozess der Digitalisierung kamen sehr hochwertige analoge und digitale Gerätschaften zum Einsatz. Der verwendete Plattenspieler Woodpecker von Dr. Feickert bietet neben der hohen Fertigungsqualität und den hervorragenden Übertragungseigenschaften zusätzlich die Möglichkeit, die Abspielgeschwindigkeit zwischen den heute bei Vinylschallplatten üblichen 33 oder 45 rpm (rounds per minute) und den früher gebräuchlichen 78 Umdrehungen zu wechseln. Als Tonabnehmer diente das Grado Prestige 78 RPM-System (MC-Tonabnehmer) mit der elliptischen 78E-Nadel und als Phonovorverstärker die Phono Box RS von Pro-Ject Audio Systems. Die Analog-Digital-Wandlung erfolgte mit einem Apollo 8p-Interface (2. Generation) von Universal Audio.

Alle analogen Tonspeicher (Schallplatten, Tonbänder) weisen ein Grundrauschen auf. Der Aufnahmepegel des Nutzsignals muss hinreichend über diesem Rauschpegel liegen (Signal-Rauschabstand), sodass das Programm störungsfrei übertragen, gespeichert und konsumiert werden kann. Der Signal-Rauschabstand (signal-to-noise ratio) ist zudem ein Gütekriterium für die technische Qualität eines Kommunikationsweges. Mit der Elektrifizierung der zuvor rein akustisch-mechanischen Aufzeichnungen trat sowohl die Möglichkeit als auch Notwendigkeit der Signalverstärkung ein. Das technische Rauschen wird durch die hohe Empfindlichkeit des menschlichen Gehörs im oberen Frequenzspektrum schnell als ein unerwünschtes Störgeräusch wahrgenommen. In der analogen Signalübertragung und dem Schallplattenschnitt kommt daher bis heute das Emphase-Verfahren zum Einsatz. Während der Aufnahme findet eine Absenkung der tiefen und Anhebung der hohen Frequenzanteile statt (lineare Vorverzerrung, Präemphase), wiedergabeseitig wird dieser Prozess umgekehrt (Entzerrung, Deemphase) und das ursprüngliche Klangbild wiederhergestellt. Gleichzeitig senkt die Deemphase dabei das technische Rauschen im oberen Spektrum ab, was zu einem verbesserten Signal-Rauschabstand führt. Die genauen Punkte (Übergangsfrequenzen) der Anhebungen und Absenkungen ergeben aufnahmeseitig die Schneidkennlinie (Vorverzerrung) und die dementsprechend umgekehrte Wiedergabekennlinie (Entzerrung). Zu Beginn der elektromechanischen Schallaufzeichnung existierten eine ganze Reihe eigener Schneidkennlinien der Schallplattenhersteller parallel (Columbia, Decca, EMI usw.), erst in den 1950er Jahren wurde die Entzerrkurve nach RIAA (Recording Industry Association of America) zur internationalen Norm für den Vinyl-Schallplattenschnitt.

Die jeweils verwendete Schneidkennlinie einer (frühen) Schellackplatte lässt sich nur aufgrund der Herstellerangabe auf dem Label nicht zweifelsfrei bestimmen, da innerhalb der firmeninternen Richtlinien und den Anforderungen an den verwendeten Schneidapparat die Toningenieure Änderungen vornahmen, um den Klang zu verbessern. Im Rahmen des Digitalisierungsprozesses der Schellackplattensammlung kam daher neben der wissenschaftlichen Recherche zu historischen Kennlinien auch das Gehör zum Einsatz, um neben der Entzerrung am Phonovorverstärker (schaltbar zwischen RIAA und Decca) Frequenzgangkorrekturen auf digitaler Ebene vorzunehmen. Restaurationswerkzeuge kamen nur dort zum Einsatz, wo die technische Qualität der Aufnahmen durch Verschleiß als zu minderwertig zum Anhören eingestuft wurde. Ebenfalls wurden – sofern möglich – Rillensprünge durch den digitalen Schnitt kaschiert; das Experimentieren mit dem Auflagegewicht des Tonabnehmers war hierbei auch ein wesentlicher Faktor. Von größeren Klangveränderungen wurde für die Ersterfassung des Bestands abgesehen, um ein authentisches Hörerlebnis nahe am analogen Original zu gewährleisten. Hochauflösende Fotografien der Plattenlabels komplettieren die digitale Erfassung der Sammlung, die Haptik einer echten Schellackplatte bleibt aber natürlich weiterhin Liebhabern dieser alten Schätzchen vorbehalten.

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